Träger des Mortier Award


2023 - Ariane Mnouchkine

Opèra de Paris, Opèra Bastille, Paris, 29. Février 2024

Carl Grouwet, Alexander Neef, Shaghayegh Beheshti, Albrecht Döring, Jack Lang,
Jeffrey Döring, Sylvain Cambreling, Alexander Pölzin


Mortier Award für Musiktheater 2023

Preisträger: Ariane Mnouchkine

 

Dankesrede

von Ariane Mnouchkine vorgetragen durch Shaghayegh Beheshti 

Comédienne au théâtre du Soleil depuis 1998,  j’ai eu la chance au début des années 2000 de jouer dans ces fameuses “usines” de Bochum qui ont été évoquées, lieu magique. Gérard Mortier nous avait invité pour donner des représentations de notre spectacle “le dernier “.  Et donc avant de lire la lettre d’Ariane , je voudrais juste glisser quelques mots pour exprimer ma sincère gratitude envers Gérard , car sans lui , la folle aventure artistique et humaine qu’a été “le dernier caravanserail” et qui a laissé une empreinte profonde et inaltérable dans nos cœurs , dans nos mémoires et dans ceux de notre public, sans lui, cette aventure fondatrice, n’aurait probablement jamais été . 

Tout ce qui était beau était joie pour Gerard. Chaque jour que les Muses lui donnèrent à vivre il le passa à poursuivre la Beauté et, très souvent, il l’attrapa. Et quand il l’attrapait, toujours, il lui fallait la partager. Cette chasse était fiévreuse, presque maladive, et les banquets qu’il nous offrait ensuite, après les avoir savamment et, disons-le, tyranniquement préparés, participaient à notre humanisation, que nous en ayons été les aides-marmitons ou les convives comblés. Oui, cet homme joyeux qu’était Gerard, fut, comme quelques rares autres de ses semblables, un homme nourricier et civilisateur, qui se réjouissait du pouvoir qu’il avait, non pas pour lui-même, mais pour celles et ceux que ce pouvoir lui permettait de faire naître et créer.

Pour chasser ainsi la Beauté et la capturer, encore faut-il savoir la reconnaitre, la discerner, même lorsqu’elle n’est encore que promesse fragile et lointaine. Gerard savait cela. Il avait cette confiance intrépide. Il avait cette patience impatiente sans laquelle aucun, aucune jeune artiste ne peut espérer accueillir la lumière.



Il savait distinguer la nécessité dans ce que tant d’autres qualifient paresseusement de caprice. Il savait ce que coûte le bonheur des yeux et des oreilles, du cœur et de l’intelligence. Il savait que la chasse à la Beauté s’accompagne toujours d’une chasse à l’argent. Que certains, hélas, confondent avec une ruée vers l’or. De ceux-là, Gerard parlait, je me souviens, avec beaucoup d’humour. J’ai beaucoup rit avec lui.

De cette gaité, de cette attention salvatrice, de cette sévère bienveillance, de cette compréhension immédiate et concrète dont le Théâtre du Soleil a été, plusieurs fois, l’heureux bénéficiaire, je ne le remercierai jamais assez. On ne remercie jamais assez, d’ailleurs, les fées qui se penchent, pas seulement sur nos berceaux, mais tout le long de nos vies. Car c’est tout le long de nos vies que nous avons besoin de fées aimantes et exigeantes.

Pour moi, et tant d’autres, Gerard fut indéniablement l’une d’entre elles. Et non des moindres. Merci, Gerard. Encore et encore.



Opèra de Paris, Opèra Bastille, Paris, 29. Février 2024 

Preisverleihung am 29. Februar 2024, Opèra de Paris, Opèra Bastille, Paris

Klaus Händl

Alexander Neef

Sylvain Cambreling

Albrecht Thiemann

Carl Grouwet

Jack Lang & 

Shaghayegh Beheshti 

Jack Lang & 

Shaghayegh Beheshti 


 

Jack Lang & 

Shaghayegh Beheshti 

Shaghayegh Beheshti 

Carl Grouwet, Alexander Neef, Shaghayegh Beheshti, Albrecht Döring, Jack Lang, Jeffrey Döring, Sylvain Cambreling, Alexander Pölzin

2019 - Alexander Kluge

Dankesrede zur Verleihung des Mortier Awards am 17. August  2021, Große Universitätsaula, Salzburg

Mortier Award für Musiktheater 2019

Preisträger: Alexander Kluge

 

Laudatio

von  

Händlklaus 

Das, was wir Gefühle nennen, besteht aus Unterscheidungsvermögen. Wir sind Warmblüter. Die Welt in der Eiszeit war kalt. Der Unterschied zwischen heiß und kalt ist uns eingewurzelt und sicher älter als jede Kunst. Es bleibt aber dabei, auch in der Moderne. Die eigentliche Kunst besteht darin, Unterschiede zu machen. Und das können die Gefühle etwas subtiler als der Verstand. Ich glaube übrigens, dass auch der nur dann gut ist, wenn er seine Wurzeln im Gefühl verankert, unserer Subjektivität. (...) Es gibt etwas Ernsthaftes in uns, etwas, das unverkäuflich bleibt, ganz gleich, was in der Gesellschaft geschieht. Das äußert sich auf vielfache Weise. Eine davon ist die Oper.

So Alexander Kluge.

In der Theatergeschichte der unterschiedlichsten Kulturen kenne ich kein gelungenes Stück, das seine besondere Anziehungskraft nicht aus der Spannung zwischen Dissonanz und Harmonie, zwischen Gut und Böse, Standhalten und Nachgeben, Pflicht und Leidenschaft, zwischen Ängstlichkeit und Zuversicht, dem Trivialen und dem Sublimen gewinnen würde. (...) Die Kraft des Theaters liegt ja gerade in seiner Fähigkeit, jedem Zuschauer zu helfen, sich selbst in der Komplexität all seiner Emotionen zu entdecken. Der Zuschauer, der beim Verlassen des Theaters auf dem Umweg über seine eigenen Gefühle die Welt, sowie sie ist, entdeckt hat, wird sich besser fühlen als jener, der im Theater die Welt vergessen will, weil das Theater ihn belogen haben wird.


Gerard Mortier

Lieber, zutiefst verehrter Alexander Kluge,
lieber, so schmerzlich vermisster wie anwesender Gerard Mortier,
und liebe Freundinnen und Freunde, als die ich Sie alle wenigstens für die Dauer dieser kleinen Rede ansehen darf, weil doch Freunde nachsichtig sind – um nicht durchzudrehen vor lauter Ungenügen – denn natürlich ist das Werk dieses mir so lieben Menschen – das mir so liebe Werk dieses mir dabei fast unbekannten, lieben Menschen – so gewaltig, schier naturgewaltig, dass ich ihm mit keinem Wort, keinen Worten der Welt gerecht werden kann. Die Bücher, die Filme, die Gespräche, die Studien: ein tiefes Meer.


Es steht für sich, und es spricht für sich.

 

Es hat die unterschiedlichsten ineinanderlaufenden Teilgebiete, Strömungen, Unterströmungen. 

 

Um zu beginnen –  rauscht als ein Flußarm dctp über den Bildschirm –  news and stories bei RTL! – und reißt wieder ab, wie Flüsse das so tun – und führt die ungeheuerlichsten Fundstücke mit sich, lauter trojanische Seepferdchen. Ein Gespräch über den Balzgesang des Heuschreckchenmännchens, an dessen Ritschen – mit dem Beinchen übers Flügelchen – das Weibchen hört, ob etwa eine Lamelle fehle, was sogleich zum Abbruch der Liebesbeziehung führt, Gespräche mit Heiner Müller, Christoph Schlingensief, Gerard Mortier – bis hin zu den Regeln für das Weinen – 

 

und da springe ich jetzt direkt hinein – wie Sie, lieber Herr Kluge, vorsätzlich:

 weil es dermaßen anrührend ist:

Aus den Regeln für das Weinen, einem kleinen Film mit folgendem Text:


In der Schweiz heißt es

man müsse Kinder weinen lassen

denn während sie weinen

wächst ihnen das Herz

 

Die Tränen der im Leben Zurückbleibenden

brennen im Verstorbenen wie Feuer

deshalb sagt man in einem Seitental der Etsch

wo ein altes Latein gesprochen wird

es dürften um ein totes Kind 

nicht mehr Tränen vergossen werden

als eine Tasse davon faßt

 

Gestorbene Kinder, die unter den Tränen

ihrer Mutter litten, erschienen im Hause

und wiesen auf ihr nasses, schweres Hemdchen hin.

Sie schleppten einen Krug mit sich

bis zum Rande mit Tränen gefüllt

und ließen sich erst wieder ins Grab niederlegen,

als die Mutter versprach, nicht mehr zu weinen.

 

Sie haben mir auch das filmische, ergreifende Lamento auf den Tod eines Maulwurfs geschenkt – und gemeint, als ich Sie gestern persönlich kennenlernte und verzweifelt war, weil mir das Reden so gar nicht liegt, und ich alles Vorbereitete über den Haufen schmiss, ich solle doch einfach über das reden, das wir beide lieben – und das ist nun eben das Lamento, das tröstlich Klagende – es ist auch das von Gerard Mortier innigst Geliebte. Für ihn war Monteverdi der Urstern, von dem in der Welt der Oper alles ausgeht und zu dem es immer wieder zurückzukehren gilt – der die schönsten Lamenti schuf; und weil auch Serge Dorny sich in unserm Raum befindet, darf ich noch von diesem überwältigenden Glück erzählen, dass er nächstes Jahr Lamenti – della Ninfa und D'Arianna, und das Combattimento di Tancredi e Clorinda – von Monteverdi mit Opern von Georg Friedrich Haas paart, für die ich das Libretto schrieb – für mich das größte Geschenk. 

 

Und ich bin ein so Glücklicher, weil ich selbst noch Gerard  Mortier begegnen durfte – dank meinem großen, ebenso viel zu früh verstorbenen Freund Peter Oswald – dem ich ALLES verdanke – der gemeinsam mit seiner Frau Barbara Fränzen übrigens ein hochidealistisches Label für Neue Musik gründete, das namentlich Ihrer Filmproduktion die Hand gibt, lieber Herr Kluge – indem es genauso optimistisch heißt: KAIROS – auch dies ein kleines flirrendes Teilchen von Gemeinschaft  – und diese – wenigen, aber allesamt so wesentlichen Begegnungen mit Gerard Mortier bleiben mir. Er war von einer einmaligen Freundlichkeit, Offenheit  –  unvergesslich.

Und er teilt mit Ihnen so vieles  – ganz grundsätzlich:  einen offenen, atmenden Raum – in dem wir auch hier sind – für den er sorgte –  für den Sie sorgen. 

Mit einem Werk, das fundamental ist, mich atmend in Atem hält – und mich als Leser und auch als  Opernlibrettist und Filmemacher bis zuletzt beschäftigen wird, denn es zieht mich – und uns – ja sogleich in den kräftigsten Dialog. Es befragt uns unablässig und bringt uns ins lebendige Denken, das – natürlich! – lauter Widerhaken hat: Einwände, Fragen, ausgelöste Fragen, buchstäblich ausgelöst, die wiederum lösen – ein Greifen, Begreifen – in der Haltlosigkeit, die wir – letztlich – alle teilen. 





Zum Beispiel, ein erstes solches Rätsel:

 

Nachdem – in Ihrem imaginären Opernführer – die Oper von Ihnen als Kraftwerk der Gefühle erläutert und etabliert ist – ist die darauffolgende Feststellung, sie betreibe vielmehr Entsorgung der Gefühle  – diese Gefühle entstünden in Familienstrukturen und führten zu Gefühlsstaus, die – als Überprodukt der Subjektivität„– diesen Weg (der Oper) wählen, sich zu entladen. So Xaver Holtzmann, Ihre Abspaltung, der diesen imaginären Opernführer entwickelt mit dem Ziel – dem Ideal – einer überwundenen Tragik. Die Abrüstung des fünften Akts wünscht er sich; das Sterben, in das fast jede Oper mündet, weiche! – in seinen hochidealistischen Entwürfen den müden Tälern eines müden Alltags.  Oder ein Satz wie: Authentizität ist kein Idol der Oper  –lässt mich stolpern – fast ins Bodenlose. Ein Schlüsselsatz für immer; immer noch denke ich darüber nach. Ob es nicht wenigstens einen Batzen davon geben müsse, wenigstens die Anmutung von Authentizität – einen Batzen davon, damit das Brot gären kann?Die Gefühle sind die wahren Einwohner der menschlichen Lebensläufe. Sie sind überall, man sieht sie nur nicht. Die Gefühle beleben und bilden die Institutionen, sie stecken in den Zwangsgesetzen, in den glücklichen Zufällen, agitieren an den Horizonten, bewegen sich über diese hinaus bis in die Galaxien. Sie finden sich in allem, das uns angeht. Ja. Einfach nur JA. Das könnte auch, wie das Meiste, von Gerard Mortier sein.  

 

Oder, gestern ging es kurz darum: Niemand würde, um eine Information zu übermitteln, singen.

Also: keine Nachrichtenmoderation in Gesang ausbrechen.

Aber sogleich schießen mir Gedanken zu Möglichkeiten, ja: dramaturgischen Notwendigkeiten der reinen Übermittlung reiner Informationen, hochgradig übersteuert oder wenigstens übersetzt ins Singen – ein.  

 

Ich weide in diesem Riesenwerk, weide süße Gräslein und bitterste Kräuter, die dem Magen und dem Herzen und der Idee von einer Seele aufhelfen, lieber Herr Kluge, diesem Riesenwerk, das nicht zu fassen ist, das eine Rahmtrommel ist für mich Frosch, der darin ertrinkend so lang strampelt, bis sich rettend Butterklötzchen bilden, denen er aufsitzen kann!

 

Sie begleiten mich wirklich schon seit meiner Kindheit - als ich mit elf, zwölf Jahren im Alternativkino von Innsbruck, dem Cinematographen, Ihren Film ARTISTEN UNTER DER ZIRKUSKUPPEL: RATLOS  erstmals sah  - diese verbindliche Brüchigkeit, nach der ich mich seither sehne und der ich in all Ihren Filmen begegne.

 

Dass es vermeintliche Nebenschauplätze gibt, auf denen Sie plötzlich blitzend daherspringen – im so spät entdeckten tollen Gedichtband von Ben Lerner – dass Sie zu ihm und mit ihm dichten! – dass lauter Anfänge auch mich so begleiten – das ist einzigartig.

Jetzt begleitet mich konkret – weil ich zu Fritz Bauer arbeite – Ihr Buch Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter – 48 Geschichten für Fritz Bauer. Ich stehe wie im Schutz dieses trügerisch schmalen, eisern tröstlichen Buches. Ausgerechnet dieses ist mir das kostbarste von allen; vielleicht können Sie es nachvollziehen. 

 

Noch ein Schlaglicht ist mir ganz wichtig – dass Sie Straub-Huillet deren frühe Filme mitermöglichten – dass dieses Werk entstehen konnte, das noch so ein Grundnahrungsmittel für mich ist – 

 

Lieber Herr Kluge, ich bin schon viel zu lang unterwegs, gelt! – aber erlauben Sie mir, dass ich noch zwei wesensverwandte Texte uns zu Bewusstsein bringe  –  einen letzten kleinen Paarlauf, einmal von Gerard Mortier: 

 

Das Theater muß ständig in Bewegung sein, so wie die Welt selbst, deren Abbild und Sprachrohr es ist. Ein Theater, das sich ans Historische heftet, wird zum toten Buchstaben. Theater muß nicht schockieren, aber es muß uns aufrütteln in unseren täglichen Gewohnheiten, unserem Konformismus und in unseren Gefühlen, die sich nicht auf bloße Sentimentalität beschränken dürfen. Auf diese Art kann das Theater zum Keim unseres Handelns in der Welt werden, weil es uns erschüttert und weil die aus dieser Erschütterung hervorgehenden Emotionen jene Kreativität entstehen lassen, die eine existenzielle Kraft des Menschlichen ist.

Um all das zu erreichen, muß mit Traditionen auch gebrochen werden, genau wie Brot gebrochen wird, damit sich daran die Zukunft stärken kann.


und von Ihnen:

 

Zu den Kennzeichen der Hauptstadt einer Republik (so wie im Mittelalter die Kirchen) gehören im 19.Jahrhundert der Justizpalast, die Börse, das Parlament und das OPERNHAUS. Die Eingänge oft "Säulen umstanden". Karl Kraus und Th.W.Adorno heben als Beispiel für einen solchen "Tempel der Ernsthaftigkeit" die Opernhäuser in Lemberg und Budapest hervor (das letztere innen ganz aus Holz wie eine Geige). – Wir Republikaner brauchen nämlich in unseren Städten einen Ort, an dem GEMEINSAME UND ÖFFENTLICHE TRAUER möglich sind. Adorno konnte sich eine Opernaufführung unter freiem Himmel nicht vorstellen. Etwas in mir, sagte er, braucht die Kuppel über dem Zuschauerraum (auf der Götter gemalt sind) als Trennwand zu einem Himmel, dem nicht zu trauen ist.


und zwei allerletzte erhellende Spitzen  –  das MUSS noch sein – wenn der Preisträger von der frühesten Oper der Welt berichtet mit diesen Worten: 


Tagelang jagte Apoll die Nymphe Daphne, die nichts für ihn empfand. Um dem Gewalttäter zu entrinnen, verwandelte sich Daphne in einen Lorbeerbaum. Lorbeer auf dem Kopf ist seither das Zeichen der Tyrannen.

 

Und von Gerard Mortier - ein einziger Satz:

 

Die wahre Tradition ist das Feststellende, nicht das Feststehende.

 

Lieber, lieber Herr Kluge, ich verneige mich vor Ihnen.


Händl Klaus

 

Salzburg, 17. August 2021

Mortier Award für Musiktheater 2019

Preisträger: Alexander Kluge

 

Dankesrede

von Alexander Kluge

Liebe Frau Stadler,
lieber Herr Hinterhäuser,
hochverehrte Jury und liebe Gäste,
lieber Laudator,

ich kannte weder Sie, lieber Klaus Händl, noch kannte ich Frau Schwab, und es ist doch schön, dass ein solcher Preis Menschen verbindet und Lust macht, mit ihnen in Zukunft zu kooperieren.

Dieser Preis ist für mich eine hohe Ehrung. Das liegt an Gerard Mortier, dessen Namen er trägt, der Name eines großen Patrioten des Musiktheaters. Es heißt: „Die Seele badet in Musik“. Seit etwas mehr als 400 Jahren gibt es die Republik des Musiktheaters. Ich habe das Gefühl, dass ich mit diesem Preis in dieser Republik als Ehrenbürger aufgenommen bin.

Theodor W. Adorno bemerkt, dass „im Gegensatz zu einem antiken Theater, das unter offenem Himmel stattfindet, die Opernhäuser über dem Zuschauerraum eine geschlossene Decke aufweisen“. Und er weist darauf hin, dass auf dieser gewölbten Decke nur gemalte Götter zu sehen sind. Kein Weg führt direkt in den Himmel. Mit Ausnahmen. Für Gerard Mortier sind Mozart und Monteverdi die festen Anker der Operngeschichte. Bei Mozart sehen wir die Königin der Nacht und im Bühnenbild von Schinkel steht sie in einem Sternenhimmel. Auch Monteverdi ist der Himmel nicht fremd. Aber bei seinem Schüler, Francesco Cavalli, handelt dessen Oper Calisto von der Verwandlung der Nymphe Calisto in das Sternbild des Großen Bären. Eine der dichtesten Geschichten aus Ovids Metamorphosen.



Statt einer langen Rede, möchte ich meinen Dank und meine Hommage an Mortier dadurch ausdrücken, dass ich einen kurzen Film zeige. Es geht um das offene Himmelszelt.

DER TON DES PLANETEN URANUS UND DER GESANG DER GORILLAS Element Eins dieses Films: Katharina Grosse hat mir dafür eine Installation angefertigt, ein sogenanntes atopic cinema, ein Gebilde aus Styropor mit mehreren Öffnungen, die alle nicht viereckig sind wie eine Kinoleinwand, sondern bizarr.

Das zweite Element in diesem Film sind die Schwingungen des gewaltigen Planeten Uranus, wenn er auf seinem Lauf um die Sonne die Raumzeit durchbricht. Das hat eine Sonde der NASA exakt gemessen. Sie wissen, dass schon Johannes Kepler in seinen harmonices mundi eine Planetenmusik notiert hat. Die Töne der großen Planeten sind bei Kepler so tief, dass Menschenohren sie nicht hören können. Allenfalls die Füße von Elefanten erfassen so tiefe Töne. Wir aber heute können die wirklichen Töne eines Planeten hören. Werden die Schwingungen in irdische Töne transformiert, klingen sie wie ein permanent sich veränderndes Geräusch, ein Ton, von dem John Cage entzückt gewesen wäre. Das ist kosmische Musik.

[…]

Ich möchte diesen kurzen Film den Salzburger Festspielen und dem großen Mortier widmen. Dieser Preis ist seiner Struktur nach eine Aufforderung zu Innovation und zu Kooperation auf dem Gebiet des Musiktheaters.

Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.

Große Universitätsaula, Salzburg, 17. August 2019 

Preisverleihung am 17. August 2021, Salzburg, Große Universitätsaula

Heinrich Spängler

Klaus Händl

Heinz Weyringer


Albrecht Thiemann

Alexander Kluge

Alexander Kluge, Markus Hinterhauser

Diskussion Leopoldskron

 Franz Welser-Möst 


Asmik Grigorian


Ulrike Schwab

Markus Hinterhauser

2017 - Markus Hinterhauser

nn

Mortier Award für Musiktheater 2017

Awardee: MARKUS HINTERHÄUSER

 

Invitation to the Future (Eulogy)

By Peter Sellars

Good morning everyone. It is great to be in Graz. Thank you very much for holding this important occasion here. I want to thank the people who support culture and make this an incubator for a future. Thank you very, very much. And I want to honor the people who are making the next generation of theater and music work. It is thrilling you’re moving forward: forward is the place to go.

 

We are here to honor two people. One is Gerard Mortier, who we think about more every day. We are grateful that the seeds he has planted are actually growing everywhere. One of the evidences is that Markus Hinterhäuser has been appointed to be the artistic director of the Salzburg Festival. That is such a good sign in this world!

 

Gerard started the new Salzburg Festival after the death of Herbert von Karajan with three propositions: Mozart’s «La clemenza di Tito», Janáček’s «The House of the Dead» and Messiaen’s «Saint François d’Assise». That opening program was not a comment on the past, it was an invitation to the future. It posed questions like «Where are we going?», «What do we have to do now?», «What really is necessary?». It didn’t ask «Where have we been?»

 

«La clemenza di Tito» showed the end of the era of kings, and the questions were: «Is democracy real?», «Will capitalism have any mercy?» «The House of the Dead» spoke of the presence of fascism that is everywhere all the time and to remind everyone of what the choices are. And «Saint François d’Assise» is an attempt to say that there is something on earth more important than money, your bank, your budget. We are on earth as spiritual beings to open our lives into a larger universe.

 

The spirit of Gerard is that spirit of opening into a larger universe, insisting that we are connected. Right now, opera and arts institutions are in trouble, serious trouble. But every democratic institution is right now under unbearable pressure and, in many cases, is failing. I think we need to link the failure of democratic institutions to the failure of artistic institutions. The pressures they are both under right now we have to connect, we have to realize that the health of democratic institutions and the health of artistic institutions are connected. The people who are trying to defund and remove the presence of the arts and culture are the same people who are trying to remove the presence of democracy. We have to recognize these pressures as related. And we have to recognize that culture was always invented as a way to keep democracy healthy. A maintenance program for democracy. How to constantly challenge people and insist that we remain open, imaginative and thoughtful, that we are still capable of feeling, that there is such a thing as insight, that nobody is what they look like, that all of us have many other universes that we carry with us every day, and that if those universes were allowed to speak this would be a different world. So let’s try letting those universes speak.

 

I came in for «Saint François» and met this astonishing person. Markus Hinterhäuser at this moment was engaged in what for me was one of the most beautiful projects in the world. I was coming to Salzburg from Los Angeles and here was a man recording the works of Morton Feldman. What? In Austria! Are you kidding? And it was truly a life work. You know, the works of Feldman have this beauty in that they are vast like the Himalayas and yet based on the most fragile, delicate moments of hesitation, questioning, searching – and then on impulse, in a Zen tradition of instant enlightenment. That enlightenment could come in any moment in a four-hour piece of music, what an idea! They are hovering on this incredibly fragile edge of non-comprehension and boredom and overwhelming spiritual clarity.

 

And so while I was in the mountains with Messiaen, Markus was in this incredible, deep searching for music that was about opening vast worlds but also about turning the gaze inward, the very thing we don’t want. If I really have to make the distinction between art and entertainment (which like anything else on earth, it’s better if they are both present), I would say this: Most entertainment is designed in order to continue our habit of being able to avoid everything you want to avoid; so you watch a stupid movie for two hours instead of dealing with something you actually need to deal with. Art returns you to the questions that you have been avoiding. Art actually makes the space where you realize you don’t have to avoid them. In fact, it is the invitation to return to yourself and the people around you in a real way and stop faking everything.

 

That space of returning to yourself is what Markus holds when he plays Schumann, Mahler. It’s a space you don’t just get to, you have to search for it. I am so moved by Markus’ performances of John Cage or Feldman and offering Feldman the Schubert that Feldman is dreaming of from Los Angeles but also offering Schubert the Feldman that is in those strange beautiful rests and harmonic shifts and offering all of us a zone where we can calm down and get very real again.

 

Markus went on to work with Gerard Mortier helping to create this wonderful new Salzburg Festival; there were moments in the Festival that had not previously existed – music of Luigi Nono and Cage existed alongside the big Verdi operas and Mozart cycles. We began to get not a mortar-tiered system of classes of Mozart and Beethoven up here and somewhere down there anybody who is alive, but a chance to live with the past as friends. Not as something you need to worship, and meanwhile the past saying «Where is your present?», «What is your future?».

 

Markus’ imagination revolves around this space. He traces it inside two chords next to each other. Or in a piano piece by Galina Ustwolskaja. Or in collaborating with artists from other disciplines – such as Christoph Marthaler, Klaus-Michael Grüber or William Kentridge. As an artist Markus creates performances of deep personal introspection, but not self-absorption. Actually, the need to connect is what is so powerful and a need to share. I am thinking of his creativity in the face of a film by William Kentridge and his imaginative ability to make a link between a song from the 1820s and a film that is still being made. Those leaps of imagination are very beautiful, made quietly, in a very personal way.

 

We are living in an age of the blockbuster. We are surrounded by knock-out performances every day – not only of the kind of Donald Trump. It is a knock-out every day. So I just cannot tell you how I admire the Salzburg Festival for hiring a Mr. Non-Blockbuster. And for actually saying «No, the Salzburg Festival is not a place of knock-out performances». What we actually need is a space of serious reflection that is not reactionary, reactive, where nobody is pulling our chain or pushing our buttons. In fact, what is not coercive in any way is – culture. It’s not like advertising. It’s not convincing you to vote for someone. It’s not telling you to reach in your wallet and give money for this. It’s a space where you can recognize your own thoughts and feelings, and start to look at life more deeply, your own life and the life of other people.

 

We are at a crossroads, not only the Western civilization, this is true all over the world. Our life choices today have tremendously far-reaching consequences. They need to be insightful and inspired. We need a place of insight – a place of inspiration, of calm, of understanding. Markus Hinterhäuser is an artist who holds all of those in his fingertips. He is an artist admired and genuinely loved by so many fellow artists. All we can do is be grateful he exists, and he exists thrillingly. I am also very grateful to all those who created and support the Mortier Awards. Thank you.

 

Schauspielhaus Graz, 24 June 2017

Guten Morgen alle miteinander. Es ist großartig, in Graz zu sein. Ich danke sehr herzlich dafür, dass dieses wichtige Ereignis hier stattfinden kann. Und ich möchte allen Menschen danken, die sich für die Kultur einsetzen und sie zu einer Art Brutstätte für die Zukunft machen. Vielen, vielen Dank dafür. Meine Hochachtung gilt auch all denen, die sich jetzt darum bemühen, dass Musik und Theater für die nächsten Generationen eine lebendige Sache bleibt. Es ist aufregend, dass Ihr nach vorne schaut. Man sollte immer nach vorne schauen!

 

Wir sind hier zusammengekommen, um zwei Menschen zu ehren. Der eine ist Gerard Mortier, an den wir immer häufiger denken. Wir sind unendlich dankbar, dass die von ihm ausgebrachte Saat nun mehr und mehr Früchte trägt. Dazu gehört die Berufung Markus Hinterhäusers zum Intendanten der Salzburger Festspiele.  Was für ein gutes Zeichen in dieser Welt!

 

Nach dem Tod Herbert von Karajans eröffnete Gerard Mortier seine neuen Salzburger Festspiele mit drei programmatischen Angeboten: Mozarts «La clemenza di Tito», Janáček’s«Aus einem Totenhaus» und Messiaens «Saint François d’Assise». Dieser Anfang war kein Kommentar zu Vergangenem, sondern eine Einladung in die Zukunft. Die Frage lautete nicht «Wo waren wir einmal?», sondern: «Wo gehen wir hin?», «Was müssen wir heute tun?», «Was ist wirklich notwendig?»

 

In «La clemenza di Tito» ging es um das Ende der Königsherrschaft und Fragen wie «Ist Demokratie eine Realität?», «Wird der Kapitalismus Gnade zeigen?» Das «Totenhaus» erzählte von der Allgegenwärtigkeit des Faschismus, der immer und überall lauert, und erinnerte uns daran, dass wir uns entscheiden müssen. «Saint François d’Assise» versucht zu zeigen, dass es wichtigere Dinge auf der Welt gibt als Geld, unsere Bank und was wir auf dem Konto haben. Wir sind hier auf Erden als spirituelle Wesen, mit der Aufgabe, unser Leben zu einem größeren Universum hin zu öffnen.

 

Der Geist Gerards ist genau das: Er ist offen für ein größeres Universum und zeigt beharrlich auf, dass wir in etwas Größeres eingebunden sind. Die Oper, Kulturinstitutionen haben heute Probleme, massive Probleme. Auf fast jeder demokratischen Einrichtung lastet in diesen Zeiten ein unerträglicher Druck. Viele brechen zusammen. Ich denke, wir müssen die Zusammenhänge zwischen dem Scheitern demokratischer Institutionen und dem Scheitern künstlerischer Institutionen in den Blick nehmen. Wir müssen in dem Druck, unter dem beide heute stehen, etwas Gemeinsames sehen und erkennen, dass das Wohl demokratischer Einrichtungen mit dem Wohl künstlerischer Einrichtungen eng verbunden ist. Diejenigen, die Kunst und Kultur ihrer Mittel berauben und so aus der Öffentlichkeit verdrängen, sind dieselben, die der Demokratie den Kampf angesagt haben. Beide Druckverhältnisse sind aufs Engste verknüpft. Wir müssen uns klar machen, dass Kultur schon immer geschaffen wurde, um die Demokratie mit Leben zu erfüllen. Als Wartungsprogramm für Demokratie: Wie man Menschen beharrlich, immer wieder dazu animiert, offen zu bleiben, Fantasie und Verstand zu gebrauchen, damit sie spüren, dass es so etwas wie Einsicht gibt und dass niemand wirklich so ist, wie er, wie sie aussieht, dass wir alle viele verschiedene Universen mit uns tragen und endlich anfangen sollten zu erkennen, dass unsere Welt eine andere wäre, wenn wir nur zulassen könnten, dass diese anderen Universen eine Stimme bekommen. Also lasst uns versuchen, diesen Universen eine Stimme zu geben! 

 

Ich reiste [1992] für «Saint François» nach Salzburg und traf diesen erstaunlichen Menschen. Markus Hinterhäuser arbeitete damals an einem Projekt, das für mich eines der schönsten überhaupt ist. Ich kam aus Los Angeles – und da spielte jemand die Klavierwerke von Morton Feldman ein. Wie bitte? In Österreich! Kein Scherz! Ein Lebenswerk im wahrsten Sinne. So wie jede einzelne Komposition Feldmans. Wissen Sie, seine Werke haben diese einmalige Schönheit: Sie sind gewaltig wie der Himalaya, aber sie beruhen auf zerbrechlichsten, zartesten Momenten des Zögerns, Fragens, Suchens – und auf einer inneren Kraft, der Kraft plötzlicher Erleuchtung im Sinne der Zen-Tradition. Und diese Erleuchtung kann sich in jedem Moment eines vier Stunden langen Stücks einstellen – was für eine Idee! Musik, die auf einer unfassbar brüchigen Schneide schwebt, zwischen Unfassbarkeit, Langeweile und überwältigender spiritueller Schärfe.

 

Als ich damals mit Messiaen in den Bergen war, hat sich Markus tief in eine Musik versenkt, die immense Welten öffnet, aber den Blick zugleich nach innen richtet – also etwas tut, was wir nicht so gerne machen. Wenn ich wirklich Kunst von Unterhaltung unterscheiden soll – wobei es, wie bei allem auf der Welt, besser ist, dass es beides gibt –, dann würde ich sagen: Unterhaltung ist meist so angelegt, dass unsere Gewohnheit bestärkt wird, allem auszuweichen, dem wir ausweichen wollen. So schauen wir uns zwei Stunden lang einen blöden Film an, statt uns mit Dingen zu befassen, mit denen wir uns befassen sollten. Kunst wirft uns auf Fragen zurück, die wir gerne umgehen. Sie erschafft einen Raum, in dem wir merken, dass wir solchen Fragen gar nicht aus dem Wege zu gehen brauchen. Tatsächlich lädt sie uns ein, wahrhaftig zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen zurückzufinden und nicht mehr bloß so zu tun als ob.

 

Zu uns selbst zurückfinden, darum geht es Markus, wenn er Schumann oder Mahler spielt. In diesen Raum gerät man nicht einfach so hinein, man muss ihn suchen. Es bewegt mich sehr, wenn Markus Werke von Cage oder Feldman aufführt und Feldman dabei einen Schubert vorführt, von dem Feldman in Los Angeles träumte, aber auch Schubert Feldman mit seinen rätselhaft schönen Pausen und harmonischen Rückungen zeigt. Und uns allen eine Zone, in der wir endlich zur Ruhe kommen und uns wirklich spüren können.

 

Markus arbeitete mit Gerard Mortier zusammen, er half, diese wunderbar neuen Salzburger Festspiele in die Welt zu bringen. Mit Programmen, die dort zuvor undenkbar gewesen wären: Neben den großen Verdi-Opern und Mozart-Zyklen stand Musik von Luigi Nono und John Cage. Es war ein völlig neuer Ansatz: Statt des überkommenen Systems mit seinen fest gefügten Klassifizierungen – Mozart und Beethoven da oben, lebende Komponisten irgendwo weit unten – erhielt man die Chance, die Alten als Freunde wahrzunehmen, nicht als Objekte der Huldigung. Und die Alten fragten: «Wo ist eure Gegenwart?», «Was ist eure Zukunft?»

 

Markus’ Vorstellungskraft dreht sich um diesen Raum. Er findet ihn zwischen zwei aufeinander folgenden Akkorden oder in einem Klavierstück von Galina Ustwolskaja. Oder im Schulterschluss mit Künstlern aus anderen Disziplinen wie Christoph Marthaler oder William Kentridge. Markus ist selbst Künstler, seine Aufführungen zeugen von einem tiefen, persönlichen Blick nach innen, ohne jede Nabelschau. Ihre Stärke liegt zugleich darin, dass sie auf die Notwendigkeit hinweisen, uns zu verbinden, zu teilen. Ich denke da zum Beispiel an die Kreativität und imaginative Kraft, mit der er [Schubert-]Lieder aus den 1820er-Jahren in Beziehung zu einem Kentridge-Film setzt, der immer weiter gedreht wird. Da schlägt die Fantasie wunderschöne Haken, still und sehr persönlich.

 

Wir leben in einer Zeit der Blockbuster. Jeden Tag sind wir Performances von erschlagender Zudringlichkeit ausgesetzt, ich denke da nicht nur an die Auftritte eines Donald Trump. Und so kann ich kaum ausdrücken, wie sehr ich die Entscheidung der Salzburger Festspiele bewundere, einen Herrn Nicht-Blockbuster zum Intendanten gemacht zu haben und damit zu sagen: «Die Salzburger Festspiele sind kein Ort für Knock Out-Vorstellungen.» Was wir wirklich brauchen, sind Orte für ernsthaftes, weder reaktionäres noch reaktives Nachdenken, wo niemand uns unter der Hand an der Kette führt oder die Strippen zieht. Zwanglos im eigentlichen Sinn ist das, was wir Kultur nennen. Das ist etwas völlig anderes als Werbung. Es geht nicht darum, uns einzuhämmern, wen wir wählen sollen. Auch nicht darum, uns zu verleiten, das Portemonnaie zu plündern, um irgendetwas zu kaufen. Kultur – das ist der Ort, an dem man sich der eigenen Gedanken, der eigenen Gefühle bewusst werden kann. An dem man damit beginnen kann, das Leben mit mehr Tiefe zu betrachten, das eigene wie das anderer Menschen.

 

Wir stehen an einer Wegscheide, nicht nur die westliche Zivilisation, die ganze Welt. Was wir heute über unser Leben entscheiden, hat weitreichende Folgen. Diese Entscheidungen sollten besonnen und inspiriert getroffen werden. Dafür brauchen wir einen Ort der Besinnung, der Inspiration, der Stille, der Verständigung. Einsichten, die Markus Hinterhäuser in den Fingerspitzen hat. Ein Künstler, den viele Künstlerkollegen bewundern und aufrichtig schätzen. Wir können nur dankbar dafür sein, dass es ihn gibt. Und wie animierend ist seine Präsenz! Zugleich danke ich all denen, die die «Mortier Awards» ins Leben gerufen haben und unterstützen. Vielen Dank!

 

Schauspielhaus Graz, 24. Juni 2017

Peter Sellars, Albrecht Thiemann, Markus Hinterhauser, nn,nn

Peter Sellars

Inhalte von Youtube werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf “Zustimmen & anzeigen”, um zuzustimmen, dass die erforderlichen Daten an Youtube weitergeleitet werden, und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in unserer Datenschutz. Du kannst deine Zustimmung jederzeit widerrufen. Gehe dazu einfach in deine eigenen Cookie-Einstellungen.

Zustimmen & anzeigen

2014 - Gerard Mortier

nn

Mortier Award für Musiktheater 2014

Preisträger: GERARD MORTIER

 

Der Menschenfreund (Laudatio)

von Michael Haneke

Es ist eine ehrende und auch eine sehr traurige Aufgabe, zum Tod eines Freundes zu sprechen. Als mich im Dezember 2013 die Anfrage der Grazer Theater-Holding erreichte, eine Laudatio auf Gerard Mortier anlässlich der Überreichung des nach ihm benannten Preises zu halten, wussten wir nicht, ob er in Anbetracht seiner Krankheit diesen Anlass noch würde selber wahrnehmen können, hofften es aber inständig. Wir hofften dies ebenso sehr für die Premiere von «Così fan tutte» am kommenden Montag [2. Juni 2014] bei den Wiener Festwochen. Es wird die letzte Produktion sein, die Wien von Gerard Mortier zu sehen und zu hören bekommt. Leider hat sich unsere Hoffnung nicht erfüllt und der schöne Anlass einer Preisverleihung ist getrübt vom Tod des Geehrten.

 

Unzählige Nachrufe sind in der internationalen Presse an den Tagen nach seinem Ableben erschienen und es hieße Eulen nach Athen tragen, wenn ich bei einem Anlass wie diesem, vor einem Fachpublikum wie dem hier anwesenden nochmals die Stationen seiner außergewöhnlichen Karriere aufzählen wollte. Er hat nicht nur die von ihm geleiteten Theater sondern die gesamte europäische Theater- und Opernlandschaft entscheidend beeinflusst und geprägt.

 

Nahezu exakt am Tag seines Todes erschien ein Band mit gesammelten Essays von Gerard Mortier und ich möchte daraus einen Satz aus dem von ihm selber verfassten Vorwort zitieren, der einen – wie ich glaube – entscheidenden Teil seiner Sicht des Theaters wie seiner enormen Wirkung umfasst. Er schreibt: «Theater machen bedeutet, die Routine des Alltäglichen zu durchbrechen, die Akzeptanz wirtschaftlicher, politischer und militärischer Gewalt als Normalität infrage zu stellen, die Gemeinschaft zu sensibilisieren für jene Fragen des menschlichen Daseins, die sich nicht durch Gesetze regeln lassen, und zu bekräftigen, dass die Welt besser sein kann, als sie ist.»

 

Ich denke, dass das Entscheidende an diesem Satz weniger die darin formulierten Prämissen sind – jeder aufgeklärte und human denkende Mensch wird sie blind unterschreiben –, das Entscheidende liegt in der Persönlichkeit Mortiers, der diese Prämissen mit unerhörter Energie, mit Intelligenz und Charme, mit Kompetenz, Provokation und Hartnäckigkeit und vor allem mit einer großen Zuneigung zu den Menschen zu verwirklichen verstanden hat. Ich erinnere mich noch sehr genau an meine Verblüffung, als er während meiner «Don Giovanni»-Proben [2006] zum ersten Mal wegen eines technischen Problems aus seinem Büro auf die Bühne der Opéra Bastille in Paris kam und jeden der dort anwesenden Bühnenarbeiter per Handschlag und mit seinem Namen ansprach. Natürlich war das auch die Cleverness eines gewieften Direktors, der wusste, dass er damit die Eitelkeit seiner Mitarbeiter befriedigte und sie dadurch anspornte, aber es war eben auch – und das fühlte jeder – die enorme Achtung und der Respekt vor dem einzelnen Menschen, die ihn dazu brachten. Ich habe Gerard Mortier nicht einmal laut und schon gar nicht verletzend gehört. Er konnte scharf sein, wenn Autorität gefragt war oder Unverschämtheit und Dummheit in die Schranken gewiesen werden mussten, aber auch dann ging es ausschließlich um die Sache, nie gegen den Menschen.

 


Freundlich, großzügig und nobel – das sind die Worte, die ihn als Menschen wohl am besten charakterisieren und die erst sein künstlerisches Programm vor den Anderen persönlich legitimierten, ja erst möglich machten. Es gibt in unserm Beruf viele Leute mit ehrenwerten Programmen, aber beim Umsetzen der Programme bleiben die Werte nur zu oft auf der Strecke. Ein gut Teil der Wirkungskraft von Gerard Mortier rührte aus seiner für jeden erkennbaren Integrität, aus der Identität zwischen Programm und Person. Er hat versucht, mit Gleichgesinnten ein Theater der wachen und aufgeklärten Mitmenschlichkeit zu kreieren.

 

Sein Beispiel sollte Kollegen und vor allem auch den künftigen Kollegen der Nachfolgegeneration Vorbild sein. Und ich denke, dass die Schaffung dieses Preises eben diesen Zweck verfolgt.

 

«Für ein Theater als Religion des Menschlichen» ist der Untertitel der Essay-Sammlung, aus der ich anfangs zitiert habe [Dramaturgie einer Leidenschaft, Kassel/Stuttgart, Bärenreiter/Metzler 2014]. Ich möchte abschließend ein paar Sätze aus dem «Finale» überschriebenen Schlusskapitel des Buches zitieren, weil ich mir geeignetere und bessere Worte zum Anlass dieser Preisstiftung nicht vorstellen kann: «Theater muss ständig in Bewegung sein, so wie die Welt selbst, deren Abbild und Sprachrohr es ist. Ein Theater, das sich ans Historische heftet, wird zum toten Buchstaben. Theater muss nicht schockieren, aber es muss uns aufrütteln in unseren täglichen Gewohnheiten, unserm Konformismus und in unseren Gefühlen, die sich nicht auf bloße Sentimentalität beschränken dürfen. Auf diese Art kann das Theater zum Keim unseres Handelns in der Welt werden, weil es uns erschüttert und weil die aus dieser Erschütterung hervorgehenden Emotionen jene Kreativität entstehen lassen, die eine existenzielle Kraft des Menschlichen ist.»

 

Ich freue mich sehr, dass mein Freund Sylvain Cambreling, Gerard Mortiers künstlerischer Mitstreiter und Lebensmensch, diese Auszeichnung für ihn entgegennimmt und wünsche dem Preis und der künftigen Opernwelt viele würdige Nachfolger.

 

Landestheater Graz, 31. Mai 2014

Mortier Award für Musiktheater 2014

Preisträger: GERARD MORTIER

 

Glücklicher Sisyphos

von Albrecht Thiemann

Lieber Gerard Mortier,

wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Mit diesen Fragen beginnt Ernst Bloch sein philosophisches Hauptwerk, «Das Prinzip Hoffnung». Das waren auch für Sie wesentliche Fragen. Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Immer wieder, immer wieder neu haben sie über das nachgedacht, was wir, um einen Romantitel von André Malraux zu zitieren, La condition humaine nennen. Geburt und Tod, Liebe und Hass, Angst und Wahn, Ich und Du – die großen Themen der Philosophie und der Künste, es waren Ihre Themen. Und Sie haben es immer wieder geschafft, sie zu unserer Sache zu machen. Mit neugierigen Augen, wachem Ohr, offenen Armen. Scharfsinnig und streitlustig; genussvoll und geduldig, mit Charme und Chuzpe. Wie ein Lebenskünstler, der die komplizierteste, verrückteste, unmöglichste aller Künste, die Oper, zu seinem Leben machte. Und zu unserem. Immer auf Entdeckungsreise, ob zu Monteverdi oder Mozart, zu Messiaen oder in die unmittelbare Gegenwart. Musiktheater als existentielle Erfahrung.

 

Ich hatte gehofft, Ihnen das heute persönlich sagen zu können. Coram publico, hier im Grazer Schauspielhaus. Im Beisein von Sylvain Cambreling, mit dem Sie so viel verbindet wie mit niemandem sonst. Im Beisein von Michael Haneke, den Sie vor zehn Jahren überredet haben, sich auf das Abenteuer «Oper» einzulassen – mit dem Ergebnis, dass er nach seinem Einstand mit «Don Giovanni» 2006 in Paris vor einem Jahr «Così fan tutte» in Madrid inszenierte; weil Sie nicht locker ließen und weil er wusste, dass es bei Ihnen für jede Schwierigkeit eine Lösung und vor allem: dass es bei Ihnen keine mit «Sachzwängen» begründeten faulen Kompromisse geben würde. Ich hatte gehofft, dass die jungen Künstlerinnen und Künstler, die hier im Rahmen des «Ring Award»-Wettbewerbs für Regie und Bühnengestaltung gerade die Traum- und Alptraumschluchten des «Freischütz» erkunden, mit Ihnen ins Gespräch kommen würden. Und dass Sie viele bekannte Gesichter aus jener Zeit wiedersehen würden, da Sie selbst Mitglied der «Ring Award»-Jury waren.

 

Als Heinz Weyringer, Intendant des «Ring Award», und ich, verantwortlicher Redakteur des Magazins «Opernwelt», im Herbst 2013 die Idee ausbrüteten, einen neuen Preis zu stiften, um den Geist, die Philosophie Ihrer Mission für ein modernes Musiktheater wach zu halten, das uns mitreißt, weil es uns betrifft, wussten wir, dass Sie schwer erkrankt waren. Im Dezember 2013 habe ich zum ersten Mal mit Ihnen über den «Mortier Award» gesprochen. Und Sie sagten spontan zu, bei der inhaltlichen Ausgestaltung mitzuwirken.

 

«Mit dem Preis», heißt es in den Statuten, «werden Persönlichkeiten ausgezeichnet, die sich exemplarisch um ein Musiktheater bemühen, das sich auf der Höhe der Zeit bewegt; [... d]as seine mehr als vierhundertjährige Geschichte als Quelle existentieller Erfahrung begreift und befragt; [... d]as in die Zukunft schaut; [... d]as die Mischung seiner Grundelemente – Musik, Sprache und Raum – nicht als ein Vorgegebenes, sondern als Expedition ins Offene denkt; [... d]as sich «politisch» positioniert, als Forum von Gesellschaft und Gemeinschaft.

 

Es geht nicht um die Förderung einer bestimmten Ästhetik, künstlerischen Praxis oder Berufsgruppe, sondern um die Ermutigung einer Haltung, die das Unmögliche möglich macht. Eines intellektuellen Ethos, das in jedem Moment der Arbeit nach dem Woher, Wo, Wohin und vor allem: nach dem Warum der Kunstform «Oper» fragt.

 

In diesem Sinne ist der Preis auch ein Plädoyer für die permanente Erneuerung des Betriebs und seiner Institutionen. Ein Aufruf, das Repertoire- und Stagione-System für neue Arbeits- und Produktionsformen zu öffnen. [...] Eine Erinnerung daran, dass künstlerische Innovation Risiko und Anstrengung bedeutet. Die Ermutigung einer Haltung, die sich quer stellt zur Macht des Gewohnten, des Marktkonformen, des quotenhörigen Schaubetriebs.»

 

Sie kennen diese Sätze. Sie haben sich in ihnen wiedergefunden. Besonders hat Sie gefreut, dass das geistige Profil des Preises fortgeschrieben werden soll, wenn er – hoffentlich alle zwei Jahre – neu verliehen wird. Nicht von einer Jury, sondern auf Vorschlag des jeweiligen Preisträgers, der jeweiligen Preisträgerin, im Sinne Ihres Lebenswerks. Denn «Musiktheater, das sich auf der Höhe der Zeit bewegt, ist per definitionem dynamisch, prozesshaft».



Sie strahlten Zuversicht, eine geradezu heitere Gelassenheit aus, wenn wir uns, zuletzt im Februar 2014, am Telefon oder via Mail austauschten. «Ich werde mich sicherlich nicht vollständig erholen», sagten Sie. «Wenn ich daran denke, wie viele jüngere Menschen von aggressiven Krankheiten heimgesucht werden, gibt es keinen Grund zu klagen. Solange ich geistig arbeiten kann, ist die Moral positiv. Wir werden sehen, wie ich da durchkomme. Wenn es nicht geht, dann geht es nicht. Aber man muss es versuchen.» Natürlich wussten Sie, dass Sie kaum über den Tag hinaus planen konnten. Und doch waren Sie entschlossen, nach Graz zu kommen. Es ist anders gekommen.
Auch wenn uns zum Heulen zumute ist bei dem Gedanken, wie plötzlich Sie aus dem Leben gerissen worden sind – in den Schmerz und die Trauer mischt sich das Vorbild eines hartnäckig, unermüdlich, mit freudigem Selbstbewusstsein gegen sein Schicksal aufbegehrenden Menschen.

 

Eines Menschen, dessen Urbild nicht nur Albert Camus in der Figur des Sisyphos entdeckte. Der Stein, den Sisyphos bergan rollt, ohne je den Gipfel zu erreichen, ist ja nicht nur eine Last. Er ist auch seine Sache. «Jeder Gran dieses Steins», schreibt Camus, «[...] ist eine Welt für sich. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.»


Lieber Gerard Mortier, wenn ich an das Bild des glücklichen Sisyphos denke, dann habe ich sofort Sie vor Augen. Weil Sie sich nie haben entmutigen lassen. Weil Sie, trotz manchmal heftiger Widerstände, nie den Gipfel aus den Augen verloren als leidenschaftlicher Anwalt der Künste und loyaler Freund der Künstler. Weil Sie – nicht nur in der Theorie, sondern vor allem und gerade in der oft mühseligen Alltagspraxis – am Prinzip Hoffnung festhielten, an der konkreten Utopie eines «Theaters als Religion des Menschlichen». So lautet nicht zufällig der Untertitel des Buches, in dem Sie Bilanz ziehen, über die Erfahrungen einer Intendantenkarriere reflektieren, die – ob in Brüssel oder Salzburg, bei der Ruhrtriennale oder in Paris und schließlich in Madrid – stets aufs Außerordentliche zielte.

 

Für Alexander Polzin, den Sie kurz nach dem Mauerfall in Ost-Berlin kennenlernten und viele Jahre später als Bühnenbildner engagierten, sind Sie ein «lachender Sisyphos» sui generis. «Ich erinnere mich noch genau», schreibt Polzin, «wie er mir 2011 etwas ironisch von einer königlichen Ehrung in Spanien [...] erzählte, um dann beinahe stolz den selbstausgesuchten Wahlspruch dafür an meine Ateliertür zu schreiben: ,in audacia virtus’. [Immer] gab ... dieser energiegeladene Wirbelwind [einem] das Gefühl, dass der Stein aufgenommen werden muss», ein neuer Anlauf Richtung Gipfel. «Das schloss stets die Möglichkeit des Scheiterns ein und gab einem trotzdem das Gefühl einer kreativen Geborgenheit.»

 

Die Bronzefigur, die Alexander Polzin anlässlich der heutigen ersten Verleihung des Mortier Awards für Sie geschaffen hat, zeigt einen Sisyphos, der förmlich mit dem Stein verschmilzt. Der den Felsblock umfängt. Nicht wie einer, der ein Gewicht trägt, das ihn zu erdrücken droht. Eher wie ein Liebender, der das ihm Teuerste umarmt. Der an seiner unmöglichen Aufgabe wächst. Und damit nicht nur sich selbst, sondern auch uns bewegt, in Bewegung hält. Als wir hörten, dass Ihre Kräfte schwanden, wollten wir diese Figur, Ihren Sisyphos, nach Brüssel bringen – als Zeichen der Dankbarkeit. Die Reise war gebucht. Wir kamen zu spät.

 

«Wenn es nicht geht, dann geht es nicht. Aber man muss es versuchen.» Wir werden alles versuchen, um die Erinnerung an Sie, an das künstlerische Vermächtnis eines Ermöglichers lebendig zu halten, das einem klaren Leitmotiv folgte: Tradition heißt Erneuerung. Wir freuen uns, dass Sylvain Cambreling, der engste Gefährte auf Ihren Kunst- und Lebenswegen, den ersten Mortier Award für Sie entgegennehmen wird. Und wir freuen uns, dass Michael Haneke nun zu Ihnen und zu uns sprechen wird.

 

 

Landestheater Graz, 31. Mai 2014

 

Heinz Weyringer, Sylvain Cambreling, Michael Haneke, Albrecht Tiemann


Albrecht Tiemann

Albrecht Tiemann

 

Albrecht Tiemann

 

Sylvain Cambreling


 Sylvain Cambreling

Sylvain Cambreling

Sylvain Cambreling

 
Michael Haneke, Sylvain Cambreling

Inhalte von Youtube werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf “Zustimmen & anzeigen”, um zuzustimmen, dass die erforderlichen Daten an Youtube weitergeleitet werden, und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in unserer Datenschutz. Du kannst deine Zustimmung jederzeit widerrufen. Gehe dazu einfach in deine eigenen Cookie-Einstellungen.

Zustimmen & anzeigen